Birgit Hering, Eurythmistin Eurythmie - Artikel
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Vorbereitende Übungen
  Im Dezember 1911 fuhr Clara Smits nach Berlin, um Rudolf Steiner aufzusuchen. Seit 1898, dem Todesjahr ihres dreijährigen Sohnes, beschäftigte sie sich mit den Gedanken der Reinkarnation und trat einem Zweig der Theosophischen Gesellschaft bei.

Im Vorzimmer wartend, hörte sie von einer Bekannten, dass deren Tochter als Lehrerin für Mensendiek-Gymnastik sehr glücklich sei .Clara Smits fiel ein, dass ihre eigene bewegliche und bewegungsfreudige Tochter ähnliche Berufsmöglichkeiten ja auch schon erwogen hatte. Während des Gesprächs, das sie anschließend mit Rudolf Steiner führte, fragte er unvermittelt nach ihrer ältesten Tochter. Clara Smits berichtete, dass Lory nun einen Beruf ergreifen müsse und erwähnte, was sie draußen wartend gehört hatte. Steiner antwortete mit dem oft zitierten Satz:

„Ja,…man kann natürlich ein guter Theosoph sein und nebenbei auch Mensendiek`sche Gymnastik machen, aber das hat nichts miteinander zu tun. Man könnte so etwas aber auch auf theosophischer Grundlage machen und ich bin gerne bereit, es ihrer Tochter zu zeigen.“
(8)

Die Situation und das Gespräch mit Rudolf Steiner ist dokumentiert und bezeichnet den Anfang der Entwicklung der Eurythmie, einer Art von Raumbewegungskunst, die es damals noch nicht gab.

Es handelt sich bei dieser Bewegungskunst zunächst um eine Beziehung der Bewegung zur Sprache.

Schon in frühesten Zeiten wurde das Spezifische des Menschseins durch Zusammenklang und Wechselwirkung von seelischer Regsamkeit, rhythmischer Sprache und rhythmischer Körperbewegung zum Ausdruck gebracht. (9)
Clara Smits fragte sich, angeregt durch die Vorträge Rudolf Steiners, ob man nicht durch rhythmische Bewegungen den Aetherleib des Menschen, der mit seinen Bildekräften den physischen Leib bildet und am Leben hält, so anregen und stärken könne, dass er heilende Wirkungen im Körper hervorrufe. (10)

So unterstützte und förderte sie die zukünftige Ausbildung ihrer Tochter Lory für diesen neuen Beruf einer Bewegungskunst, die auf aetherischen Bewegungsimpulsen beruht.

Nach diesem folgenschweren Gespräch gab Rudolf Steiner gleich die erste praktische Übung für Lory:

Sagen Sie Ihrer Tochter, sie solle Alliterationen schreiten; einen kräftigen, etwas stampfenden Schritt auf den alliterierenden Konsonanten machen und eine „gefällige“ Armbewegung dann, wenn dieser Konsonant fehlt. Sie soll daran denken, dass Alliterationen eigentlich nur im Norden aufgetreten sind, also in Ländern, wo es sehr windig ist. Sie soll sich einen alten Barden vorstellen, wie er im Sturm am Meeresstrand dahinschreitet, die Leier im Arm. Jeder Schritt ist eine Tat, ist ein Kampf und Sieg über den Sturm. Und dann schlägt er die Saiten und eint sein Lied dem des Sturmes. (11)

Also, sich mit einem festen Schritt wie gegen den Boden stemmen, einen Aufrichte-Bewegungs-Strom durch die Körpergestalt fühlen, sich in das Licht über uns strecken, die Himmelskuppel über uns fühlen; sich zwischen Erde und Himmel gehalten fühlen und mit energischer Gebärde mit der Umgebung in Beziehung treten. Wille im Schritt, Intention im Aufrichten, atmende Gebärde in der Beziehung zur Welt.

In dieser Übung fühle ich mich kräftig in und mit meinem Körper verbunden und spüre die Möglichkeit, aus meiner fühlenden Mitte heraus mit dem Raum in Beziehung zu treten.

Es vergingen danach sechs Wochen: Ende Januar 1912 gab Rudolf Steiner Lory Smits weitere vorbereitende Unterweisungen für ihren zukünftigen Beruf.
  Die zweite vorbereitende Aufgabe war dann, sich eine ausreichende Kenntnis des menschlichen Körpers mit seinen Knochen, Gelenken, Muskeln und Bändern anzueignen. Was sie später mit Hilfe der Stabübungen wahrnehmen und erleben konnte, sollte sie sich erst, anhand eines Anatomischen Atlas für bildende Künstler, ansehen und bewusst machen.

Wo sind die Kugelgelenke, die kreisende Bewegungen erlauben, wo sind die Scharniergelenke, die abwinkelnde Bewegungen erlauben, was gibt es für natur-gegebene Bewegungsmöglichkeiten des Menschen in allen Abstufungen von ‚Gebeugt’ und ,Gestreckt’?

Als dritte Aufgabe bekam sie, sich so oft wie möglich griechische Bildwerke anzuschauen- Originale, Kopien oder nur Abbildungen. Aber immer nur anschauen, niemals versuchen diese Stellungen nachzuahmen. Und in der griechischen Literatur nachsuchen, was dort über die Tanzkunst geschrieben ist.

Im bloßen Anschauen dieser Bildwerke kann man versuchen, die Gestalten innerlich zu erleben. In welchem Verhältnis stehen sie zu Himmel und Erde? Wo halten sie sich, wie sind die Schwerkraftverhältnisse? Welche Rolle spielt der Ansatz im Sonnengeflecht, in der Mitte, im Umkreis?

Als vierte Aufgabe sollte sie sich Sätze sprechen, die nur einen Vokal enthalten, zum Beispiel: „Barbara saß stracks am Abhang“. Laut sprechen und beobachten, was dabei in der Kehle an Bewegungen und Dynamik vorgeht und das dann tanzen.

Sie sollte also, unabhängig vom Inhalt, hören, wie verschieden die Silben klingen. Die Aufmerksamkeit ist innen, sie sollte hören, lauschen auf die Sprachbewegung und dann diese Dynamik in Bewegung umsetzen. (12) Für jeden Vokal findet man Übungssätze, Lory Smits sollte sich selber Sätze erfinden.

Die fünfte Aufgabe war, die sechs Zeichnungen von Cornelius Agrippa in seinem Werk ‚De philosophia occulta’ zu studieren. Es sind Zeichnungen der menschlichen Gestalt, eingeordnet in verschiedene geometrische Figuren. Sie sollte sie einzeln in ihren Stellungen üben und anschließend rasch und leicht von der einen in die andere springen und dabei besonders auf das Verhältnis der Arm- und Beinbewegungen achten, ob Arme und Beine sich parallel oder gegeneinander bewegen. Es ist eine geometrische, gestaltbezogene Körperbeherrschungs-übung, die gleichzeitig den Umkreis miteinbezieht.

Erst zwölf Jahre später gibt Rudolf Steiner den Eurythmistinnen die eurythmische Meditation: ‚ Ich denke die Rede’, bei der die Stellungen in bestimmter Weise angeordnet sind.
  Als sechste Aufgabe sollte sie mit den Füßen schreiben lernen, deutliche Schrift und links in Spiegelschrift. Das sollte sie üben und tun, um eine richtige und differenzierte Beziehung zur Erde und feine, intime Fußbewegungen zu veranlagen. Versuche ich dieser Aufgabe im Stehen nachzukommen, merke ich, wie stark ich diese Bewegung nach unten führen muß, wie sehr ich das Gleichgewicht halten muß. Ein ausdrucksstark und differenziert geführter Schritt ist wichtig für die Darstellung.

Für die letzte, die siebte Aufgabe, zeichnete Rudolf Steiner zwei Reigentänze, die zu irgendeiner passenden Musik gestaltet werden sollten. Beim ersten Reigentanz bewegen sich mehrere Personen auf einer Kreisbahn, umkreist und begleitet von je einer zweiten Person.

Beim zweiten Reigentanz sollten mehrere, in der Mitte sich kreuzende Lemniskaten der Nase nach gelaufen werden. Diese beiden Übungsreihen haben eine geometrische Grundgestalt. Ohne andere Gebärden oder Inhalte soll die Konzentration auf das gemeinsame Bewegen im Raum gerichtet sein. Die Aufmerksamkeit ist nicht nur gestaltbezogen, sondern auch umkreisorientiert.

Mit wem Lory Smits allerdings diese letzte Aufgabe geübt haben soll, habe ich nicht entdecken können. Bevor die eigentlichen ersten neun Unterrichtseinheiten in Bottmingen am 16. September 1912 begannen, verging ein gutes halbes Jahr, in dem sie sich intensiv mit diesen vorgeschlagenen Übungen befasste.

Lory Smits konnte in dieser Zeit sehr viele Vorträge Rudolf Steiners hören. Als sie Ende Juli nach München kam, waren dort die Proben für die Aufführungen der Mysteriendramen in vollem Gange.

In den Mysteriendramen sollten die Zuschauer sehen, welche persönlichen, individuellen Erlebnisse bestimmte Menschen haben, wenn sie auf dem Weg zu anderer, höherer Erfahrung sind. Auch um die Auseinandersetzung mit karmischen Verstrickungen geht es, um Gefahren und Prüfungen und wie der Einzelne daran arbeitet, zu einem freien Entschluß zu kommen.

Zwei Wesen hat Rudolf Steiner beschrieben, Wesen der übersinnlichen Welt, die er Luzifer und Ahriman nennt und die den Entwicklungsgang der Menschen beeinflussen. Es sind Wesen, die ganz verschiedene Kräfte vermitteln: Luzifer die Kraft des Leichtseins, des Lösens, und Ahriman die Kraft des Verfestigens, Geballten bis zum Erstarrten. Es ist deutlich, dass der Mensch durch innere Arbeit die Mitte finden soll, sonst wird er durch eine dieser Kräfte, die die Herrschaft über ihn erlangen, zur Einseitigkeit getrieben und seine Seele versteinert oder verliert sich selbst.

In den Aufführungen der Mysteriendramen im Sommer 1912 in München sollten auch diese übersinnlichen Wesen, Luzifer und Ahriman mit ihrer Gefolgschaft, auftreten. Lory Smits wurde eingeladen mitzumachen und den ahrimanischen Wesen zugeteilt.

Rudolf Steiners Regie-Anweisung: Von der Seite des Luzifer bewegen sich Wesen heran, welche Gedanken darstellen. In tanzartiger Weise führen diese Bewegungen aus, welche Gedankenformen, den Worten Luzifers entsprechend, darstellen.…..Nach diesen Worten bewegen sich von Ahrimans Seite die Gedankenwesen und führen Tanzbewegungen, seinen Worten als Formen entsprechend, aus. (13)

Wichtig ist wohl, dass Lory Smits, ohne etwas von dem Neuen, das entstehen sollte, zu wissen, auftreten sollte. Sie sollte die eigene innere Seelenkraft aktivieren, um ein unsichtbares, im seelischen Bereich sich abspielendes Geschehen den Zuschauern durch Bewegungen anschaubar zu machen. (14)

Niemals sollten wir diese Seelenaktivität vergessen, auch wenn wir heute eine Fülle von Material haben, um eine Eurythmie- Aufführung zu gestalten.
  In den nächsten Wochen hörte sie den Vortragszyklus von Rudolf Steiner: ‚Von der Initiation. Von Ewigkeit und Augenblick. Von Geisteslicht und Lebensdunkel’ (15) und nahm an vielen Proben für die Mysteriendramen teil.

Am letzten Abend gab Rudolf Steiner Lory und Clara Smits die ersten konkreten Angaben für die Vokale
I    A    O.

Stellen sie sich aufrecht hin und versuchen Sie, eine Säule zu empfinden von den Ballen der Füße bis in den Kopf, diese Säule, diese Aufrechte, lernen Sie empfinden als I .

Nun verlagern Sie diese Säule so, dass der Körper hinter dem Punkt der Füße steht, dann haben Sie eine Haltung, die Sie als A empfinden lernen sollen….Und nun kommt die dritte Haltung: dazu bringen Sie den Kopfpunkt der Säule vor den Fußpunkt, und das lernen Sie empfinden als O.
(16)

Allen den vorangehenden Übungen merkt man an, daß es Rudolf Steiner um das Wahrnehmen und Erfühlen des Körpers von innen ging. Außerdem um die Beziehungnahme zum Raum, Orientierungssicherheit allein und mit anderen, was ein gutes Raumgefühl begründet. Tanz schafft sich immer und überall im großen Unbegrenzten seinen Tanzraum nicht dadurch, dass er unbedingt einen vorsätzlich geplanten Raum in den unbegrenzten der Natur hineinbaut oder real absteckt, sondern dadurch, dass er ihn sich imaginär in der Form des Tanzes schafft oder zumindest in der Reihe oder Kette umläuft und dadurch magisch wirksam werden lässt. (17)

Jetzt, mit dieser letzten propädeutischen und gleichzeitig ersten Übung für die Eurythmie kommt etwas Neues hinzu. Mein Ich- Gefühl bezieht sich nicht nur auf den Körper, sondern ich lebe mich in ein Gefühl ein, was völlig unräumlich ist, und gleichzeitig: Ich.

Ich lerne, dass mein kleines Ich von meinem großen Ich getragen ist.

Ich führe mit meinem Körper Bewegungen aus und erlebe, dass sich in diesen Bewegungen etwas ausdrückt, was der Laut I und A und O als Gefühl hinterlässt.

Das ist wirklich neu, dass ich mich während meines Bewegens angeknüpft fühle an mein anderes Ich und dass ich mich räumlich und zeitlich, nämlich im seelischen Erleben fühlen kann.

Rudolf Steiner hat mit diesen Übungsaufgaben ein eurythmisches Bewegen angelegt.

Mit der ersten spezifisch eurythmischen Übung    I    A    O    knüpft er an seine schon 1908 zum Prolog des Johannesevangeliums gestellte Frage an: Könnten Sie das tanzen?

Im Anfang war das Wort   -    I    A    O.

Lory und Clara Smits fuhren dann nach Basel, wo sie ab dem 14. September den Vortragszyklus von Rudolf Steiner ‚Das Markus- Evangelium’ (18) hörten, jeden Abend während der ersten neun Unterrichtstage.

Am 15. September 1912 begann der Unterricht. Erst Jahrzehnte später war es möglich, mit Hilfe von Edwin und Eva Froböse, alle ihre Aufzeichnungen aus diesen Jahren und vieles mehr den Eurythmie-Studierenden aus aller Welt zugänglich zu machen, in ‚Entstehung und Entwicklung der Eurythmie’. (19)

Ein ausführliches Studium gerade dieser Anfänge ist heute sehr sinnvoll, da wir neue, andere Inhalte künstlerisch bearbeiten wollen.

Träumend wach spüre ich den Bewegungsprozeß, kann ihn in der gegenwärtigen Tätigkeit auch verändern, korrigieren, ohne aus dem Strom des eurythmischen Bewegens herauszufallen. (20)


 
Anmerkungen

8   Magdalene Siegloch, Lory Maier-Smits, a.a.O. S.22

9   Ebenda, S.24

10   Ebenda, S.24

11   Ebenda, S.25

12   Fritz Reusch, a.a.O. Um die Jahrhundertwende gab Julius Hey sein dreiteiliges Werk ‚Deutscher Gesangsunterricht’ heraus, dem er dann einen ‚Sprachlichen Teil’ einfügte. Gerade dieser Teil ist als ‚Der kleine Hey’ ein Standardwerk für Sprecherziehung geworden und erfasst die elementaren Grundlagen der Kunst des Sprechens. Im Kapitel über die Sprechübungen für den Vokal A finden wir folgende Strophe:

Barbara saß nah am Abhang,
Sprach gar sangbar-zaghaft langsam;
Mannhaft kam alsdann am Waldrand
Abraham a Sancta Clara!


13   Magdalene Siegloch, Lory Maier-Smits, a.a.O. S. 42

14   Ebenda, S.43

15   GA 138, Dornach 1986

16   Magdalene Siegloch, a.a.O. S.44

17   Dorothee Günther, a.a.O. S.61

18   GA 139, Dornach 1985

19   Rudolf Steiner, Entstehung und Entwicklung..., a.a.O.

20   Werner Barfod, Vom Erwecken..., a.a.O.
 
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