|
|
Könnten Sie das tanzen?
Die Anfänge der Eurythmie im zeitgeschichtlichen Kontext |
|
Eurythmie ist in einer Zeit entstanden, in der die Unzufriedenheit mit der bestehenden Balletttradition groß war und in der viele Tanz- und Theaterpersönlichkeiten mit der Umwandlung und Entwicklung der Tanzkunst existenziell beschäftigt waren.
Das Gefühl von Leere und auch das harte Training wurden als unmenschlich erlebt und auch der mangelnde Spielraum für den Ausdruckswillen des Einzelnen.
Zwei Systeme zur Ausbildung freierer Tanzformen waren damals sehr populär: der Franzose Francois Delsarte (1811-1871) untersucht Zusammenhänge zwischen Psyche und Bewegung, und unterrichtet Tänzer, wie sie ihre Gefühle und Gedanken in Übereinstimmung mit ihren Körperbewegungen bringen können; der Schweizer Emile Jacques-Dalcroze (1865-1950) entwickelt in Genf am Konservatorium ab 1892 die sogenannte Eurythmie, eine neue, rhythmische Gymnastik, die das Gleichgewicht zwischen Körper, Seele und Geist herstellen kann und die er ab 1902 auch dort unterrichtet. In Hellerau bei Dresden gründet er 1911 seine ‚Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus’.
In Russland entsteht in dieser Zeit eine Künstlergruppe, zu der auch Sergej Diaghilev gehört, der spätere Leiter des Ballett russe, das bis in die dreißiger Jahre mit aufsehenerregenden Bühnenwerken durch Europa reist. Unter Diaghilevs geistiger Leitung entstehen viele Stücke, die der Idee von einem Gesamtkunstwerk entsprechen. Dichtung, Musik, Malerei und Tanz sind hierbei gleichberechtigt. Diaghilev konzentriert sich auf die Vermittlung, vergibt Kompositionsaufträge (z.B. ‚Feuervogel’ von Strawinsky) und Aufträge für Bühnenbild und Kostüme z.B. an Picasso und Matisse.
Er fördert den als Wundertänzer bekannten W. Nijinsky, der Choreographien schuf, die, fast unabhängig von der Musik, sich auf psychologisch motivierte Haltungen und Posen konzentrieren wie in ‚L`apres-midi d`un faune’, mit der Musik von Claude Debussy.
Am Anfang der Entwicklung des Ausdruckstanzes stehen einzelne Tänzerpersönlichkeiten, die dem expressiven Impuls folgen: Kunstfähig ist nicht nur das, was allgemein für schön gehalten wird, sondern das, was den Künstler bewegt.
Isadora Duncan (1878-1927) wirkt hauptsächlich in Europa. Die Provokation, die ihre Tänze ausgelöst haben, ist keine mehr; aber der Tanz, als subjektive Aussage des Menschen, ist bei ihr angelegt. Sie tanzt barfuß, in tunikaartigen Kleidern, auf einer leeren, nur mit Vorhängen umgebenen Bühne. Obwohl sie sich von den Sammlungen griechischer Kunstschätze inspirieren lässt, will sie nicht die antiken Bewegungsformen kopieren. Aber sie studiert die kontinuierlich verlaufende Bewegung, der Prozeß ist ihr wichtig.
Unter den Tausenden von Figuren, die uns auf den griechischen Vasen und Reliefs überliefert sind, findet sich nicht eine, deren Bewegung nicht bereits eine andere Bewegung voraussetzen würde. Die Griechen waren eben außerordentliche Beobachter der Natur, in der alles der Ausdruck nie endender, ewig sich steigernder Entwicklung ist, in der es nie ein Enden, nie ein Anhalten gibt. [1]
Isadora Duncan sucht einen ‚natürlichen’ Weg, spielt bewusst mit Körpergewicht und Schwerkraft (im Gegensatz zum klassischen Tanz, der den Eindruck von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit hervorrufen soll) und guckt der Natur Bewegungen ab, wie die Wellenbewegung, die sie in ihre Tänze aufnimmt.
Wellen-Liebeswellen-/Ich habe gerade über Tanzwellen Klangwellen Lichtwellen geschrieben - alles dasselbe - [2]
Ihre Anregungen nimmt sie von außen, z.B. ein Gemälde oder Musikstück, und macht einen subjektiven, gefühlsbestimmten Tanz daraus.
Der innere Raum wird wichtig.
Zur gleichen Zeit lebte und arbeitete die damals revolutionäre Tänzerin Loie Fuller (1862-1928). Ursprünglich trat sie in Variete-theatern auf – in New York, Berlin und Paris. Berühmt wurde sie durch ihre Serpentintänze. Das Charakteristische daran sind die wellenförmigen, spiral-, kreis-, und schraubenförmigen Bewegungen, die durch Drehungen und Gegendrehungen zustande kamen, während sie das Kleid am Saum festhielt und um den Körper schwang. Außerdem vergrößerte sie ihr Kostüm mit unsichtbaren Stäben und Drähten und nutzte farbiges, elektrisches Licht. Für sie war Farbe, Licht, Material genauso wichtig wie Musik und Bewegung.
Ihre Tänze waren abstrakt, brauchten keinen Handlungsfaden. Im Serpentinentanz erscheint und verschwindet der Körper in einem ständigen Wechselspiel der Farben und Formen.
Zu Beginn des Jahrhunderts versammelten sich auf dem Monte Verita im schweizerischen Ascona viele Künstler. Ab 1913 hatte hier Rudolf von Laban (1879-1958) eine Zweigstelle in der ‚Schule der Kunst’, die unter anderem auch die Vorteile von gesundem Leben, Freikörperkultur und vegetarischem Essen lehrte. Sein Interesse galt der Architektur, sein Ansatz lag in der Beziehung von Körperbewegung und Raum. (Später gestaltete er Bewegungschöre mit bis zu 10.000 Teilnehmern und stellte sich den Nationalsozialisten zur Verfügung.)
Mary Wigman (1896-1973) wird seine Mitarbeiterin und folgt ihm 1913 nach München, wo sie ihre Arbeit als Tänzerin, Choreographin und Pädagogin beginnt.
Sie fordert den absoluten Tanz, einen Tanz, der weder vom Rhythmus der Musik noch von allgemeingültigen Raumgesetzen bestimmt ist, sondern nur schöpferische, individuelle Bewegung bedeutet. Auch sie studierte die griechischen Vasenbilder und beschreibt sie in ihren Tagebuchaufzeichnungen:
O Eros, gewaltiger! Aus diesem Empfinden stürzen sich die Amazonen in den Kampf, tanzt der Satyr, rasen die Mänaden - wir heute wissen nicht, was und wie sie tanzten, aber es gibt für uns ein nachträgliches innerliches Erleben, das uns von all den geschauten Gestalten her kommt. Ein Wissen gibt es nicht. Es tut auch nicht not, aber ein Verstehen, ein Begreifen ohne zu wissen, das gibt es für uns. Und zu diesem gelangen wir durch ein Erfassen des Lebens, des pulsierenden, warmen Blutes in all den Gestalten [3]
Ihr Ansatz liegt im Erleben, das eigene Erleben soll im Mittelpunkt stehen und zur Sprache gebracht werden. Ihre Themen sind Leid, Trauer, Tod, Leben… (3)…Aber natürlich wird auf ein umfassendes Körpertraining größten Wert gelegt, um das Instrument Körper spielen zu lernen (wobei die Anforderungen heute zweifellos höher sind als damals). „Die Wandlung des Körpers vom Leib zum Instrument“ definiert Mary Wigman als „einen Prozeß des Werdens, Wachsens, Reifens, in der Einheit von Körper, Seele und Geist.“ [4]
... in den späten Jahren... habe Mary Wigman fast nur noch Soloimprovisationen gearbeitet, hier half sie den Schülern am meisten, sich zu finden. Alle Bewegungen seinen aus dem Atem gekommen, aus dem Zentrum, sie waren noch nicht dezentral, peripher, isoliert, was heute ja von großer Bedeutung sei... Der Tanz ist heute pluralistisch, er geht zum Körper hin, die vielfältigen Teile des Körpers werden erlebt, gesucht, gefunden, gezeigt, durchformt, im Raum durchlebt, der Körper wird als erster eigener Raum erfahren, seht, so ist der Mensch, so bin ich. Im Gegensatz dazu suchte Mary Wigman das Eigene in den Raum zu projizieren und die persönliche Geste ins Allgemeine zu überhöhen... [5]
Oskar Schlemmer (1888-1943) wiederum wendet sich gegen den Expressionismus und die Subjektivität der Ausdruckstänzer. 1922 führt er sein ‚Triadisches Ballett’ in Stuttgart und 1923 in Weimar auf.
... Unter geometrischen Gesichtspunkten setzt er einfache Bewegungsformen, wie zum Beispiel Gehen, Sitzen oder Liegen in Beziehung zum Raum. Der Raum wird für ihn durch den Körperbau und das Kostüm des Tänzers, die räumlichen Bedingungen des Aufführungsortes und die durch Bewegungen entstehenden Bodenwege und Haltungen bestimmt... Deshalb ist es das Ziel seines gesamten Schaffens, sich einem idealen Menschentypus anzunähern, dessen Körpermathematik den Raum lebendig machen soll. [6]
„Könnten Sie das tanzen?“
In ihren Lebenserinnerungen erzählt Margarita Woloschin, eine bekannte russische Malerin, wie Rudolf Steiner diese Frage an sie stellte. Sie hatte an einem Abend im Mai 1908 seinen Vortrag über den Prolog des Johannes-Evangeliums gehört und die Antwort erschien ihr sehr selbstverständlich: Ich glaube, man könnte alles tanzen, was man fühlt.
Im Herbst desselben Jahres versuchte Rudolf Steiner wieder, ihr Interesse zu erregen, indem er zu ihr über den Tanz im Zusammenhang mit Rhythmus und alten Tempeltänzen spricht, aber er findet keine Resonanz in ihrer Seele. [7]
Erst vier Jahre später konnte er, dank der Suche und Fragestellung von Clara und Lory Smits die Grundlagen für eine neue Bewegungskunst geben.
Es ist dies seine Antwort und sein spezieller Beitrag zu der aktuellen damaligen Zeit-bewegung, nämlich der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten im Tanz.
Anmerkungen
1 Isadora Duncan, a.a.O., S.233 und S.243
2 Ebenda, S.226 und S.233
3 Gabriele Fritsch-Vivie, a.a.O.,S.12
4 Ebenda, S.135
5 Ebenda, S.137
6 Jutta Krautscheid, a.a.O.,S.109
7 Rudolf Steiner, Entstehung und Entwicklung, a.a.O., S.10
8 Magdalene Siegloch, Lory Maier-Smits, a.a.O., S.22 |
| |